Gefühle und Bedürfnisse

Gefühle und Bedürfnisse  

Eigentlich ist Manuela mit ihrer Arbeit und ihrem Arbeitsplatz zufrieden. Sie liebt die spannenden  Herausforderungen im Wechsel mit täglicher Routine; alles steht in einem guten Verhältnis zueinander. Wenn sie ein herausforderndes  Projekt zu Ende gebracht hat, kann sie sich darauf verlassen, dass für kurze Zeit wieder Ruhe in Form von täglichem Allerlei mit Nachbereitung, Statistik, Ablage und Routinearbeiten einkehrt. Das sind die Erholungsphasen, wo sie wieder Kraft tanken kann.  Meistens. Wären da nicht diese ständigen Störungen: Häufig reißt eine Kollegin ohne anzuklopfen die Tür auf und platzt mit einer Frage oder Mitteilung heraus. Während Manuela in solchen Momenten immer aus ihrem Arbeitsflow herausgerissen wird, stört das ihre Zimmerkollegin Sabine überhaupt nicht. Diese  ist gesellig und tratscht gern. So kommt es regelmäßig vor, dass Personen ohne Anzuklopfen ins Büro kommen und sich dann angeregt mit ihrer Kollegin unterhalten. Das macht Manuela verrückt, ungeduldig, nervös und ärgerlich. Eine ganze Menge an Gefühlen. Wo soll sie da nur anfangen?

Gefühle kommen und gehen. Sie sind nicht Teil unserer Persönlichkeit sondern nur temporäre Gäste. Es gibt Methoden, mit starken Gefühlen umzugehen, es gibt Tipps und Tricks, kurzfristig zu entfliehen (sich ein Hundebaby vorstellen, bis 10 zählen, aufs Klo gehen usw.). Aber mit so einem Durcheinander an Gefühlen weiß Manuela nicht so recht, wo sie beginnen soll. Manchmal möchte sie bei diesen Störungen vor Verzweiflung heulen, an andermal mit dem Fuß stampfen und losbrüllen.

Jedes Gefühl ist Ausdruck eines Bedürfnisses. Gefühle sind uns vertraut, damit schlagen wir uns tagein tagaus herum. Sie kommen und gehen manchmal völlig unverständlich und scheinbar grundlos. Dem ist aber nicht so. Die Gefühle sind sozusagen Bestellungen/Aufträge der  Bedürfnisse. Das Bedürfnis macht mittels Gefühl auf sich aufmerksam. „Da fehlt was – bitte erledigen!“ Es lohnt sich deshalb, dem Bedürfnis hinter dem Gefühl auf den Grund zu gehen. Dieses Spüren und Ergründen macht handlungsfähig!

Eine einfache Art, einer Situation auf den Grund zu gehen, ist es demnach, hinter die eigenen Kulissen zu schauen: Was steckt hinter der Wut, Trauer, Enttäuschung, Frustration? Welches Bedürfnis wurde gerade missachtet und hat somit mein Gefühl ausgelöst?

Was kann man sich unter einem Bedürfnis vorstellen? Ein Bedürfnis ist ein körperlicher oder geistige Mangel, der behoben werden will/soll. Wir alle haben Bedürfnisse – körperliche Grundbedürfnisse wie Nahrung und Trinken, ein Dach über dem Kopf, Sexualität, Sicherheit und geistige wie Soziale Kontakte und einen Platz in der Gesellschaft haben, Persönlicher Erfolg, Ansehen, Stärke oder Selbstverwirklichung.

Die Frage beim Erforschen des zugrundeliegenden  Bedürfnisses  ist: Was brauche ich? Woran fehlt es gerade? Welches Bedürfnis wird gerade missachtet? Bei Manuela ist es im Moment gerade Ruhe. Sie braucht Ruhe und Stille. Sie will darauf vorbereitet sein, wenn jemand kommt – das heißt Besucher sollen anklopfen – und möchte in Ruhe ungestört weiter arbeiten. Manchmal erlebt sie das Hereinstürmen auch als respektlos, da wünscht sie sich respektvollen Umgang.

Wenn das Bedürfnis einmal erforscht ist, hat man Ansatzpunkte für Lösung und Veränderung. In Manuelas Fall kann sie zum Beispiel ihre Kolleginnen bitten, anzuklopfen. Sie kann mit ihrer Bürogenossin reden und mit ihr nach einer Lösung suchen. Angefangen von einer zeitlichen Beschränkung der Besuche bis hin zu  der Möglichkeit, dass die  Kollegin selbst das Büro verlässt und die anderen besucht.

Die einzelnen Schritte:  
1) Gefühl spüren: Ist da was? Was ist das für eine Irritation? Und danach geht es daran, es zu
2) Gefühl identifizieren: Wenn da was ist, dann  WAS ? Und von da ist es nur noch ein Katzensprung zum zugrundeliegenden
3) Bedürfnis ergründen: Was brauche ich, was fehlt mir?  
4) Lösungsansätze überlegen und  
5) Bitten formulieren – sei es an sich selbst oder andere.  

Es lohnt sich, diese Art zu denken auszuprobieren. Wenn wir Innenschau halten und überprüfen, was wir selbst gerade brauchen, dann bleiben wir ganz bei uns. Wir orientieren uns nicht an den Fehlern und dem Fehlverhalten anderer. Auf uns selbst können wir gezielt Einfluss nehmen, auf andere nur bedingt. Wenn wir bei uns bleiben, können wir handeln. Nach und nach fällt es leichter, Bedürfnisse zu erforschen und zu identifizieren.

Wenn man das Bedürfnis erkannt hat, kann man überlegen, was man braucht und von wem. Erst wenn man das weiß, kann man Bitten an Personen richten, etwas zu tun oder zu unterlassen. Manuela weiß, dass es nun an ihr liegt, die Situation zu verbessern: Sie kann Bitten an ihre Kolleginnen richten: „Ich bitte euch, vor dem Eintreten anzuklopfen.“ „Ich bitte euch, leiser zu sprechen oder die Unterhaltung im Pausenraum fortzusetzen.“

Unsere Gefühle sind keine unangenehmen und nutzlosen Störungen. Sie sind große und auffällige Wegweiser zu den darunterliegenden Bedürfnissen. Wenn wir sie wahrnehmen und verstehen, haben wir künftig  nicht nur ein Mittel, uns selbst zu helfen, sondern auch die Bedürfnisse anderer zu erkennen und unsere Empathie und unser Mitgefühl für sie zu vergrößern.