Mein Yoga ist heiliger als dein Yoga

Mein Yoga ist heiliger als dein Yoga

 

„Yoga hat seine Seele verloren. Aus einer heiligen Praxis, bei der Körperübungen nur eine untergeordnete Rolle spielen,  ist mittlerweile  eine Industrie geworden, die Figurbewusste und Sportakrobaten in ihrem Konsumwahn bedient.“So oder ähnlich kritisieren echte oder vermeintliche Meister das Phänomen der großen Beliebtheit von Yoga. Was hat es damit auf sich? Entweihen wir mit unserem Wunsch nach Transformation eine alte indische Weisheitstradition? Ist es falsch, wenn wir aus altem Wissen neue Kraftquellen und Techniken für die Menschen im 3. Jahrtausend basteln? Und wie verkraftet es zum Beispiel der Buddhismus, dass wir Westler uns die Rosinen Meditation und Achtsamkeit aus dem großen Kuchen gepickt haben?

Selbst unter westlichen YogalehrerInnen beobachte ich regelmäßig, dass sie Kritik an ihren KollegInnen üben – ganz nach dem Motto: Mein Yoga ist besser als dein Yoga.

Das schmerzt, weil ich vor Jahren eine Yogalehrerinnenausbildung abgeschlossen habe (RYT 200) und im Waldviertel Yogaklassen anbiete. Ich habe weder mein halbes Leben in Indien bei einem Yogi in einer Berghöhle verbracht noch genüge ich wahrscheinlich den Ansprüchen der selbsternannten Kritikerinnen  im Westen.  Ein kurzes Aufflackern von Schuld muss aber bald einer vernünftigen Argumentation weichen:

Betrachten wir in Analogie zu Yoga das Thema buddhistische Lehren: Achtsamkeit und Meditation. Zwei Teilbereiche aus dem Buddhismus, der mit den Lehren von Frieden und Glück bis hin zur  Erleuchtung einfach alles bietet, was der menschliche Geist bewirken kann.

Den meisten von uns sind die Begriffe Achtsamkeit oder Meditation heute ein Begriff. Dank jener Autoren (allen voran Jon Kabat Zinn), die sich einem Teilbereich der Lehren intensiv gewidmet haben, seinen Nutzen für die Menschen erkannt und diesen den bedürftigen Menschen im Westen nahegebracht haben. Durch sie haben die beiden Begriffe enorm an Beliebtheit gewonnen und unzählige Bücher füllen mittlerweile die Regale der Esoterik- oder Religionsabteilungen in den Buchgeschäften. Und mit den verkauften Büchern und den gebuchten Kursen (Achtsamkeitstraining, Meditation) steigt das Wissen und Können der Interessierten:

Ihr Geist kommt zur Ruhe, sie werden zufrieden und glücklich! Vielleicht nicht immer dauerhaft, aber selbst eine Minute an Ruhe und Frieden ist gut. Kommerzialisierung hin oder her, was zählt ist der Nutzen, und der ist von unermesslichem Wert. Jeder zufriedene und ruhige Mensch ist eine Keimzelle des Friedens und somit von enormem Nutzen für die ganze Welt. Ein ruhiger Geist ist in der Lage, negative Gefühle wie Wut und Hass zu erkennen und sinnvoll mit ihnen zu arbeiten. Natürlich dienen die Methoden auch der höchstpersönlichen Stressreduktion und mögen egoistisch anmuten. Aber Hand aufs Herz: Mit wem führen wir lieber ein Gespräch, mit einem vollgestressten und herumplärrenden Chef oder einem ruhigen und  besonnenen? Liefern wir uns nicht auch lieber den Händen einer Chirurgin aus, die in ihren Ferien vielleicht einen Kurs in Stressreduktion mit Achtsamkeit und Meditation gemacht hat als einer, die vom Alltagsstress mitgerissen wird? Was die Welt heute braucht, ist Ruhe, Gelassenheit und Frieden. Und dazu ist jedes Mittel recht.

Wir liefern uns permanent und blind den Versuchungen der modernen Gesellschaft aus. Das Leben ist lebensgefährlich: Krankhafter Konsum, exzessive Nutzung von Unterhaltungselektronik, Junkfood, Stress, gefährliche Hobbys wie Skifahren und Paragleiten, ungesunde Beziehungsmuster, Stoff- und nicht stoffgebundene Süchte und vieles mehr. Es gibt unendlich viele Ursachen, unser Leben zu gefährden, verkürzen oder zu beenden. Glauben wir ernsthaft, eine falsch ausgeführte Meditation, Atemübung oder Yogastellung stürzt uns ins Verderben?

Die Lehren sind nicht unser Eigentum. Selbst wenn wir sie studiert haben – vielleicht unter größten Entbehrungen, und sie verstanden und integriert haben, gibt uns das nicht das Recht, sie anderen vorzuenthalten, die nicht bereit sind, diesen beschwerlichen und mühsamen Weg zu gehen. Wir leben in einem Zeitalter, in dem wir reich gesegnet sind mit Informationen. Beinahe jedes Wissen ist abrufbar und studierbar. Das ist ein unglaublich großes Glück. In (buddhistischen) Geschichten kann man nachlesen, dass vor hunderten Jahren die Menschen oft lange und weit reisen mussten, um in den Genuss von Unterweisungen zu kommen. Und wenn sie es geschafft hatten, dann war der Umfang der Lehren sehr beschränkt. Heute können wir die Begriffe in eine Suchmaschine eingeben oder uns gleich online  eines oder mehrere Bücher unter vielen zu diesem Thema bestellen. Das ist nicht inflationär, das ist revolutionär. Ebenso haben wir die Möglichkeit, via Internet die mündlichen Überlieferungen in Videos anzuhören, weil viele Lehrer ihre Teachings aufzeichnen und großzügig mit der Welt teilen.

Wir brauchen in unserer heutigen Welt im 3. Jahrtausend Lehren – Wissen und Methoden-, um Frieden und Glück zu erschaffen. Das Hintergrundrauschen von Konsum und Ablenkung wird immer lauter, deshalb ist es ein großes Geschenk, wenn die Methoden für alle Menschen zugänglich werden. Weise Lehrer sehen diese Entwicklung und teilen ihr Wissen – auch wenn der Großteil der Zuhörer oder Leser vielleicht nur einen geringen Teil davon für sich verwenden und anwenden können wird. In einigen buddhistischen Traditionen werden auch die geheimen Lehren geteilt. Besondere Zeiten erfordern besondere Methoden. Die Weisheit der Lebewesen soll unterstützt und gefördert werden. Wenn die Menschen nicht wissen, welche Möglichkeiten es gibt, werden sie sie nicht in Anspruch nehmen.

Wenn der Weg zum Glück nur über Askese und jahrelangen Rückzug aus der Welt zu finden ist, werden ihn sehr wenige beschreiten. Die Lehre bleibt dann nur einem kleinen auserwählten Teil vorbehalten. Haben die Interessierten jedoch die Chance, Einblick in das Wissen zu nehmen und nach ihren Fähigkeiten und zeitlichen Kapazitäten zu üben, so ist das eine wunderbare Möglichkeit.

Achtsamkeit und Meditation haben mittlerweile einen festen Platz im modernen Leben. Die meisten Menschen wissen, dass diese Techniken im Buddhismus wurzeln, setzen sich deshalb aber nicht eingehender mit der „Religion“ auseinander, wenn sie nur meditieren oder mehr Achtsamkeit in ihre Leben bringen wollen. Buddhistische Lehrer nehmen dies wohlwollend zur Kenntnis und erfreuen sich daran, dass viele Menschen meditieren und achtsamer sind.

Ein wenig anders erscheint mir indes die Yogalandschaft. Wie eingangs beschrieben, stößt man als Yoga-Praktizierende/r regelmäßig auf den tadelnd erhobenen Zeigefinger: Was immer wir hier im Westen unter Yoga verstehen und ausüben sei immer nur ein kleiner Teil der großen Lehre. Und ich werden das Gefühl nie ganz los, etwas Unrechtes zu tun- beim Yoga Üben und auch beim Unterrichten.

Wie ist das dann also mit Yoga? Beinahe jeder, der einmal eine Yogastunde besucht hat, weiß, dass Yoga mehr ist als die Körperübungen. Die meisten wissen, dass es dabei auch um Meditation, Atemübung, eine positive Geisteshaltung, körperliche wie geistige Reinheit oder um eine angemessene Ernährung geht. Auch dass es unterschiedliche und zutiefst spirituelle Yoga Wege gibt.

Körper und Geist sind eine Einheit. Heutzutage fällt es vielen Menschen leichter, über ihren Körper Zugang zu sich selbst und ihrem Geist zu erlangen. Der Körper kann den Weg weisen. Leitet man ihn weise an, wie es bei den Yogaübungen geschieht, hat das in den meisten Fällen Auswirkungen auf den Geist. Körperlich Raum schaffen sorgt für mehr Raum im Geiste. Den Körper zu spüren und ihn zu beobachten führt dazu, Gefühle und Geistesempfindungen besser wahrzunehmen. Diese Phänomene und ihren positiven Auswirkungen beobachte ich seit Jahren bei meinen YogaschülerInnen und bei mir selbst. Sind Körper und Geist einmal mit Meditation und Körperübungen vertraut, verändert sich das Denken. Yoga ist ein Werkzeug, um den Widrigkeiten des Alltags besser begegnen zu können und Ruhe und Frieden im Geist zu vermehren.

Wenn wir die Lehren verstehen und anwenden können, so dürfen wir glücklich darüber sein – zum einen, ihnen begegnet zu sein und zum anderen sie auch begriffen zu haben. Es ist einfach wunderbar, alle an dem (heiligen) Wissen teilhaben zu lassen. Niemand weiß, welche tiefgreifenden spirituellen Auswirkungen einfache und womöglich aus dem Zusammenhang gerissenen (Körper-) Übungen für jemanden haben können. Vielleicht ist es der Erste Schritt zur Erleuchtung! Zweifler mögen nun einwenden, oh ja, und wenn diese Übungen schädlich sind für die Person? Alles im Leben birgt Gefahren und noch nie waren wir so vielfältigen Gefahren ausgesetzt wie heute. Wir alle haben unendlich viele Möglichkeiten, falsche Entscheidungen zu treffen und falsche Erfahrungen zu machen: Drogen, gefährliche Gewohnheiten, fatale Hobbys, falsche Anschauungen, um nur einiges zu nennen. Wir selbst tragen tagtäglich die Verantwortung für unseren Weg. Wir alle wissen intuitiv, was heilsam ist und was nicht, wir können zwischen gut und böse unterscheiden. Wenn die Menschen Methoden bekommen, ihren Geist zur Ruhe zu bringen und ihn  zu kontrollieren, profitieren sie nicht allein als Individuum davon. Frieden und Glück beginnen im Kopf jedes einzelnen. Und der Frieden des Einzelnen bleibt nicht ohne Folgen!

Kurzum, wir Menschen sprechen auf verschiedene Methoden unterschiedlich an: Der eine schult sich in buddhistischer Achtsamkeit, die anderen findet bei Yogaübungen inneren Frieden. Ich ermutige zu einer Betrachtungsweise voller Leichtigkeit. Bleiben wir in Bewegung, sehen wir das Positive darin: Erfreuen wir uns an den eigenen kleinen Erfolgen und denen unserer Mitmenschen! Auch dann, wenn wir uns nur für einen kleinen Teil des großen Paketes entschieden haben!

Die Yoga Industrie hat in der Tat viele Yogastile hervorgebracht und es ist zum Glück für jeden Geschmack etwas dabei. Rund 10 Prozent der US-Population hat Kontakt mit Yoga. Das ist eine vielversprechende Zahl, der wir in Europa nacheifern können.

Wenn wir uns auf Yoga einlassen, kann es unser Herz berühren und uns für immer verändern. Yoga hat seine Seele nicht verloren!